MMS ist ein neueres Zauberwort. Es steht für „Miracle Mineral Supplement“, dann für „Miracle Mineral Solution“, dann für „Master Mineral Solution“, gerade so, als wenn die „Erfinder“ der wunderbaren Substanz selber nicht genau wüssten, wie sie es nun bezeichnen wollen.
Hinter der bombastischen Bezeichnung verbirgt sich eine Chemikalie, das Natriumchlorit. Selbiges ist nicht mit Natriumchlorid zu verwechseln, was die chemische Bezeichnung für Kochsalz ist. Natriumchlorit (NaClO2) ist das Salz der chlorigen Säure und keineswegs „neu“, wie der „Erfinder“ der Substanz, Jim Humble, behauptet.
Neu ist nur, dass man jetzt dieses Zeugs als „natürliches Antibiotikum“ bezeichnet und als Allheilmittel für Hunderte von Erkrankungen ausgibt.
Es soll angeblich wirksam sein gegen Krebs, AIDS, Infektionen (also nicht nur als Antibiotikum) und viele andere mehr. Aber weder die schulmedizinische Forschung, noch die nach meiner Meinung etwas solidere naturwissenschaftliche Forschung haben hier auch nur ansatzweise positive Erkenntnisse gewinnen können.
Wie wirkt der Zauberstoff?
Das Produkt kommt in Form von 2 Flaschen. Die eine Flasche enthält das Natriumchlorit, die andere eine verdünnte Säure, die als „Aktivator“ dient. Wenn dann NaClO2 und Säure zusammengeschüttet werden, dann setzt der darauffolgende Reaktionsprozess Chlordioxid frei, ein hoch reaktives Oxidans, das in der Tat so ziemlich alles oxidiert, was ihm in den Weg kommt. Damit werden auch eventuell vorkommende Bakterien und Viren beseitigt. Also doch ein „natürliches Antibiotikum“?
Laut Selbstdarstellung der MMS-ler wirkt dieses „Antibiotikum“ selektiv, d.h. es zerstört nur die schlechten Bakterien und Viren und lässt die guten Bakterien und normalen Körperzellen in Ruhe. Diese Darstellung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts als eine alternative Form der Marketinglügenmühle, ein alternatives Märchenland, um eine Chemikalie zu einem allgemein verkaufbaren Markenartikel zu befördern. Natriumchlorit bzw. Chlordioxid wird nämlich genau auf diese Weise in der Industrie eingesetzt, um Wasser zu desinfizieren und Zellstoff, Textilien usw. zu bleichen. Von daher ist die Substanz alles andere als neu. Und laut Gefahrenstoffkennung gilt sie als giftig und brandfördernd.
Wer heilt, hat Unrecht
Aber nicht nur die unglaubwürdige Geschichte der selektiven Wirkung stößt nachhaltig säuerlich auf. Auch die auf der Webseite von Humble behauptete 100-prozentige Heilungsrate bei allen Erkrankungen ist mehr als unglaubwürdig. Es gibt in der Natur keine 100-prozentigen Wunder. Niemand kann sich von Möhren allein ernähren, und seien diese auch noch so gesund.
Wir sind einfach nicht so amöbenhaft einfach gestrickt, als dass eine einzige Substanz alleine alles bewirken kann. Dies ist segmentielles Gedankentum, wie es gerade in der Schulmedizin gepflegt wird. Um dieses „Dogma“ von der allmächtigen Wirksamkeit des MMS zu untermauern, muss dabei einiges an gedanklicher und pseudowissenschaftlicher Artistik an den Tag gelegt werden.
Denn ein Oxidans, so wie es bei der Mischung von Flasche 1 und 2 entsteht, kennt keine Selektivität in seiner Wirkung auf sein „Opfer“. Auf der Humble Webseite wird diese angebliche Selektivität mit abenteuerlichen Argumenten umschrieben (The Basic Science of MMS (Chlorine Dioxide) (educate-yourself.org)).
Erst wird einmal behauptet, dass Chlordioxid ein einzigartiges Molekül ist, das von Natur aus chemische Eigenschaften besitzt, die es selektiv für Pathogene macht. Wie diese Eigenschaften aber aussehen, will die Webseite aber nicht erklären. Das müssen wir halt glauben. Wie auch so einiges mehr.
Danach wird erklärt, dass das Chlordioxid Elektronen vom Krankheitserreger abzieht, bis dass dieser Zugrunde geht. Aber auch hier bleibt vollkommen offen, warum nur Krankheitserreger von dem Oxidationsprozess betroffen sind und nicht auch die nützlichen Bakterien bzw. körpereigene Zellen. Ach ja, da war doch der Glaube an die Einzigartigkeit der chemischen Substanz.
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Jetzt bleibt noch ein Bündel an Fragen offen. Zum Beispiel, wenn ich das Gemisch einnehme, dann kommt es zur Reaktion im Magen, der ja weitestgehend keimfrei bzw. -arm ist. Wie gelangt das Chlordioxid nun in den Organismus, wo es wirken müsste, wenn es Infektionen bekämpfen soll?
Es ist kaum vorstellbar, dass es im Magen, dann auf seinem Weg durch den Dünndarm vollkommen inaktiv bleibt und dann nach der Resorption wirksam wird, wenn es in der Blutbahn oder im Gewebe ankommt. Wird Chlordioxid überhaupt resorbiert? Und warum kommt es selbst nach eigenen Angaben zu Durchfällen, ein Zeichen einer negativen Beeinflussung der Darmflora, wenn es doch keinen Einfluss auf diese nimmt, da es ja selektiv nur die Bösewichter niedermacht?
Es gibt vielmehr Anzeichen aus Studien aus den 1980er Jahren, dass Chlordioxid als Desinfektionsmittel im Trinkwasser sich mit einer Reihe von Substanzen im Gastrointestinaltrakt verbindet, aufgrund des Oxidationsprozesses, wie z.B. Jod, so dass von Resorption überhaupt keine Rede mehr sein kann (https://ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3816729 und https://ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/4043591). Vielmehr behindern diese Verbindungen eine Resorption des in den Nahrungsmitteln vorhandenen Jods, was unter Umständen zu einem Jodmangel führen kann. Damit wäre das Wunderzeugs bei Infektionen unwirksam, da es überhaupt nicht bis zum Infektionsherd vordringen kann. Und der Grund liegt unter anderem an seiner fehlenden Selektivität. Somit ist die Sache mit der Selektivität zur Glaubenssache gereift, genau wie die wundersamen 100-prozentigen Heilungsraten.
Dazu kommt dann noch die Überlegung, dass wir mit den verschiedenen Vitaminen und Heilkräutern immer bestrebt sind, ein hohes Maß an Antioxidantien zu uns zu nehmen, die genau diese Oxidantien im Schach halten, da die im Ruf stehen, für beträchtlichen organischen Schaden zu sorgen. Der Glaube an das wundersame MMS jedoch lehrt uns das genaue Gegenteil, dass nämlich Oxidantien therapeutisch wertvoll sind.
Ja, was denn jetzt? Können wir dann nicht einfach die Antioxidantien absetzen und schon geht es allen fiesen Bakterien schlecht, da sie sich ja nicht mehr auf die perfide Hilfe der Antioxidantien verlassen können? Es gibt in der Tat Prozesse, wo der Organismus Oxidantien bildet, um Pathogene und auch entartete Zellen abzutöten bzw. eine Apoptose auszulösen. Diese Prozesse sind jedoch streng lokal begrenzt und vom Organismus gut kontrolliert. Es findet also keine generalisierte Oxidation des gesamten Organismus statt.
MMS, Schulmedizin und Behörden
Wir kennen ja die außerordentliche Verschnupftheit von Schulmedizin und Behörden, wenn es um die Beurteilung von alternativen Behandlungskonzepten und Substanzen geht. Von daher ist es nicht sonderlich verwunderlich, dass MMS keine gnädige Begutachtung von dieser Seite erhält. Leider kann ich nicht umhin, diesmal den Behörden zumindest in einer Reihe von Punkten beizustimmen.
Das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) brachte erst unlängst (2. Juli 2012) eine Stellungnahme zum Wundermittel heraus. Hier wurde von gastrointestinalen Störungen berichtet, „wie Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, teilweise mit Blutdruckstörungen und erheblichen Flüssigkeitsverlusten. Direkter Kontakt der unverdünnten oder falsch gemischten gebrauchsfertigen Lösung kann zu Haut- und Schleimhautreizungen bis hin zu Verätzungen führen.“ Weiter spricht das BfR von einer „Irreführung“ der Verbraucher, da beim MMS der Eindruck erweckt wird, dass es sich hier um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt.
Aber Natriumchlorit bzw. Chlordioxid sind weder Nahrungsmittel noch Nahrungsergänzungsmittel, sondern Chemikalien und haben keinen Ernährungscharakter (https://www.bfr.bund.de/cm/343/bfr-raet-von-der-einnahme-des-produkts-miracle-mineral-supplement-mms-ab.pdf).
Aber auch die Gesundheitsbehörden der USA, Kanada, Frankreich, Schweiz und Großbritannien haben sich ähnlich kritisch zu dem Produkt geäußert und zum Teil lebensbedrohliche „Nebenwirkungen“ dokumentiert. Die oxidative Wirksamkeit scheint sogar so stark zu sein, vor allem körpereigenem Gewebe gegenüber, dass es zu Magenperforationen gekommen ist.
Vielleicht sind bei diesen eher seltenen Fällen zu hohe Konzentrationen verabreicht worden. Aber dennoch ist das tatsächliche Auftreten solcher Fälle kein Beweis für die Sicherheit des Produkts. Denn in dem Reigen alternativer Produkte oder Substanzen gibt es aus praktischer Sicht keine Überdosierung und damit verbundene Nebenwirkungen.
Das gilt für die Homöopathie, Heilpilze, Spirulina, Vitamine (mit Ausnahmen wie Vitamin A) und die Mehrheit der Heilkräuter. Hier gibt es kaum Berichte über Nebenwirkungen aufgrund von zu hohen Dosierungen. Schon alleine dieser Aspekt macht MMS für mich höchst suspekt.
G plus G = Glaube und Geld
M steht für Miracle = Wunder, eine Substanz, die es in der Naturwissenschaft nicht gibt. Wunder gibt es in Religionen. Sie sind die Wahrheitsbeweise für die einzigartige Richtigkeit der betreffenden Religion. Schon alleine eine chemische Substanz als Wunder auszugeben, verbunden mit dubiosen Erklärungen, die keine sind, macht das Tamtam um Humble zu einer Art Religion, oder besser Sektierertum.
So bezeichnet sich der Guru Humble auf seiner Webseite (https://jimhumble.co/) als „Archbishop“ (Erzbischof), was den quasi religiösen Charakter dieser Zeitgenossen nur noch einmal mehr unterstreicht. Wir sollen also glauben, an die Sache und an den Erzbischof mit seinen kläglichen Erklärungen über die Wirksamkeit des Produkts. Und nach dem Glaubensbekenntnis kommt dann die Kollekte: Auch der Pastor denkt an Zaster… So wird der gläubige MMS-ler auf der eben zitierten Webseite aufgerufen, 3 Dinge zu tun (3 Dinge braucht der Mann…):
„The 3 Things We All Must Do:
1. Make a donation – Again, this is critical.
2. Forward this Email to everyone you know and ask them to donate.
3. Commit to this fight, as if it were our own! It is!“
3 Dinge, die wir alle tun müssen:
1. Gib eine Spende – nochmals, dies ist besonders wichtig.
2. Leite diese E-Mail weiter an jeden, den du kennst und frag nach weiteren Spenden.
3. Nimm dich dieses Kampfes an, als wenn er der deinige wäre.)
Ich finde diese „Vorstellung“ schon sehr fragwürdig.
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Beitragsbild: 123rf.com – ralwel